Zeitweise auf Zeitreise
Spätestens seit das örtliche Multiplex vor Jahren seine gedruckten Kinotickets gegen billige „Kassenzettel“ eingetauscht hat, ist meine Sammelleidenschaft für Kinokarten nahezu erloschen. Was ich noch aufhebe, sind manche Eintrittskarten für die Filmnächte, genauso wie die Programmhefte.
12 Jahre Filmnächte in Chemnitz – nicht aus allen hat ein Heft überlebt. Manches ist zerfleddert oder bekritzelt, vom Regen oder Kaffee aufgeweicht und wieder getrocknet oder in den Untiefen meines Rucksacks anderweitig zu Schaden gekommen. Sind die Eselsohren damals mit Absicht entstanden, um bestimmte Seiten zu markieren? … Oha, im Programmheft von 2013 gab es Getränke-Gutscheine in Form von Barcodes!? … Wahnsinn, was über die Jahre alles für Stars da waren! … Es fühlt sich an, als würde ich in meinem Poesiealbum aus der 1. Klasse blättern, obwohl manche Programme kaum länger als eine Pandemie zurückliegen.
Die vergilbtesten Programmhefte belegen: In den Anfangsjahren hieß das Festival noch „Filmnächte auf dem Theaterplatz“, analog zu „…am Elbufer“ – der Dresdner Mutterkonzern entschied sich nach einigen Jahren aber gegen den Standort, weswegen der neue Veranstalter (bestehend größtenteils aus dem alten Team) dem totgeglaubten Projekt unter dem Namen „Filmnächte Chemnitz“ neues Leben einhauchte.
Der Theaterplatz als perfekt geeignete Location ist geblieben – bloß gut! Auch wenn ein Open-Air-Kino z. B. am Stausee Oberrabenstein verlockend klingt (gemütlich auf einer Picknickdecke liegen und gemeinsam mit Ameisen und Stechmücken den Film genießen), ich bleibe lieber auf dem Theaterplatz.
Die herrlich beleuchtete Kulisse aus Kunstsammlungen, Oper, Petrikirche und Filmnächte-Plaza, dazu die vorbei ratternde Straßenbahn, das alles gehört zu meinem Chemnitzer (Film-)Sommer! „Im Herzen von Chemnitz“ gelegen, das mag abgedroschen klingen – aber es stimmt. Vielleicht funktioniert ein Open-Air-Kino in diesem Stil nur mitten in der Innenstadt, wo die Infrastruktur gegeben ist und der Lautstärkepegel keine Anwohner-Verbände erzürnt…
Hauptsache Kulturhauptstadt
Nun könnte sich die Filmnächte-Leinwand hier bald zum letzten Mal aufplustern – und das ausgerechnet, weil Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt wird. Offenbar entsteht gerade der große Masterplan und dafür wird der Theaterplatz „gebraucht“, so lesen sich aktuelle Presseberichte und so deutet es auch die Petition an, die derzeit für den Theaterplatz als etablierte Filmnächte-Location wirbt (mehr zu den Hintergründen).
Ja, 2023 läuft der derzeitige Vertrag aus, aber die Filmnächte sind doch bestimmt gekommen, um zu bleiben! Das größte Wohnzimmer der Stadt – hier sind sie zu Hause! … Und was jetzt? Eine Zwangspause für mehrere Jahre? Doch wer kann schon sagen, wie die Spielregeln nach 2025 aussehen… Das Festival verbannt auf irgendeine Wiese Savanne, die noch frei ist? Oder einfach, wie man sich so schön sagt, wenn der Abspann vorbei ist: „Das war’s“. Ab nach Hause, sich höchstens noch mit Programmheften und Eintrittskarten an laues Sommerkino erinnern.
Vom ersten zaghaften „Kultur…hauptstadt?“-Wispern bis hin zur überschwänglichen Live-Stream-Verkündung habe ich Chemnitz immer die Daumen für dieses Wettrennen gedrückt. Warum auch nicht? Ich wohne hier und liebe Kultur! Der Titel „Kulturhauptstadt“ bedeutet insgesamt 20 Millionen Euro vom Freistaat; das wird sicher helfen, die Filmnächte weiterzuentwickeln, zu vergrößern, zu verbessern…! – Genau wie die städtischen Kino-, Theater- und Museumslandschaften, den Parksommer, Attraktionen auf dem Marktplatz und und und. Nun entsteht der Eindruck, Chemnitz‘ Kultur werde nicht ausgebaut, sondern ausgetauscht. „Dankeschön an die tolle Vorband, dass ihr 12 Jahre lang den Platz vorgewärmt und Schwachstellen ausgekundschaftet habt – uuuuuund jetzt kommt die Hauptattraktion!“
Orchester, Dirty Dancing, Avengers – Wer darf Kultur?
Noch bitterer ist das Gefühl, dass Filme vielleicht „nicht Kulturhauptstadt-würdig“ sind – dass es der eigenen Stadt nicht genügen könnte, was die Filmnächte dem Theaterplatz an „Kultur“ zu bieten haben. Dabei haben sie über die Jahre alles im Lineup gehabt: Theater, Premieren mit Filmteams, Poetry-Slam, Klavierkonzerte, Diskussionsrunden mit regionalen und überregionalen Gästen, Stummfilme mit Orgelkonzert, TERRA, historische Archivaufnahmen aus Chemnitz, Classics unter Sternen, das „TUN“-Konzept als Vor-dem-Film-Programm mit Lokalkolorit etc. pp.; „normale“ Konzerte natürlich auch!
Doch Filme!? Wie viel „Kultur“ kann ein schnöder Kinofilm denn überhaupt zusammenkratzen? Anspruchsvollere Filme füllen gerade mal das Clubkino, erfolgreiche werden im Cinestar zu Tode gespielt, teilweise in drei Sälen gleichzeitig. Dazu ein Publikum, dass aufnahmefähig ist geradeso für einen Eimer Popcorn und die Filmvorschau – und es gibt nicht mal Applaus nach einem Film für die Kulturschaffenden, welch ein Jammer! (Stimmt übrigens nicht, ich kann mich an beklatschte Film-Premieren auf dem Theaterplatz erinnern und z. B. auch an begeistert applaudierende Familien nach „Kung Fu Panda 2“). …Falls es nicht klar wurde: Meine Meinung ist das nicht.
Chancen, Risiken und Nebenwirken
Noch vor 1-2 Jahren war für mich glasklar, dass „Chemnitz – Kulturhauptstadt 2025“ in erster Linie die bestehende Kultur stärken dürfte. Herausputzen und zeigen, was Chemnitz in diesem Sektor zu bieten hat. Das ist nämlich eine ganze Menge. Nicht einfach: „Platz da, bitte mal, JETZT kommt die Kultur!“ …Versteht mich nicht falsch – ich bin durchaus gespannt, wie die Stadt den ikonischen Theaterplatz in eine schillernde Kulturhauptstadt-Zentrale verwandeln würde. Ich zweifle nicht, dass mit dem finanziellen Rückenwind eine Produktion aufgefahren werden kann, die die Filmnächte (gerade optisch und akustisch) übertrifft. Es gibt ungenutzte Potentiale, definitiv.
Aber ich wünschte mir für 2025 wirklich „Die Filmnächte – Edition Kulturhauptstadt“, natürlich auf dem Theaterplatz und natürlich Hand-in-Hand mit der (Kulturhaupt-)Stadt. Nicht zuletzt, weil „Film“ zur modernen Kultur unbedingt dazugehört und die Filmnächte hier umfassende Expertise vorweisen können, gerade unter offenem Himmel. Und was bitteschön versprüht mehr „Kultur à la Chemnitz“ als die traditionelle „Dirty Dancing“-Nacht, die Jahr für Jahr melonentragende Massen auf den Theaterplatz zieht?
Ich finde wirklich, dass Klassiker, aber auch Blockbuster-, Arthouse- und Experimentalfilme, Serien-Specials, Musical-Verfilmungen, deutsches Kino etc. einen Platz im Kulturhauptstadt-Kalender haben sollten. Und unter der Kulturhauptstadt-Flagge bieten sich Chancen an, beispielsweise:
- Wieder internationale Filmstars nach Chemnitz locken.
- Den eingeführten Filmpreis „KARL“ zu einem echten medienwirksamen Filmfestival ausbauen.
- Mitmach-Workshops über die Filmwerkstatt inszenieren.
- Die Film- und Vorführ-Technik aufmotzen und mit Lichtinstallationen kombinieren.
- Familien und Fans zu Gaming-Events einladen (Gaming ist als Kulturgut bzw. zumindest als Unterhaltungsmedium ebenfalls längst im Mainstream angekommen!).
- Die Kinos der ganzen Kulturregion zusammentrommeln und gemeinsam etwas auf die Beine stellen.
- Und und und.
Kompromiss oder „dismissed“?
Logisch, zielführend und fair wäre für mich also wirklich ein gemeinsamer Masterplan zur Kulturhauptstadt, der einbezieht, anerkennt und weiterführt, was 12 Jahre lang gut funktioniert hat.
Die Filmnächte wollen keine Monopolstellung, sondern einfach im „großen Jahr“ weiterhin ein Teil des Theaterplatzes sein und mit ihren Kompetenzen zur einer vielfältigen Kulturhauptstadt beitragen. Sie können hier glänzen! Warum aber tut sich die Stadt dann so schwer damit, gemeinsame Nenner zu finden?
Es fällt mir natürlich nicht schwer, den Filmnächten die Daumen zu drücken – sie sind der etwas in die Jahre gekommene Platzhirsch, der „Underdog“ gegenüber dem forschen Eliteteam der Kulturhauptstadt. 12 Jahre Dauerfeuer vs. 2 Jahre Strohfeuer? Oder: „Der Nischel müsste mal woandershin umziehen, wir bauen da jetzt einen Eifelturm hin!“ Ich fühle mich auch daran erinnert, wie die Games Convention damals aus „meinem“ Leipzig verdrängt wurde (wenngleich die Parallelen überschaubar sind). Sympathie für den „Verdrängten“ zu empfinden, ist immer leicht.
Wer keine nennenswerte Beziehung zu den Filmnächten auf dem Theaterplatz hat, wird wahrscheinlich einfach entgegen: „Was denn, der Vertrag läuft ganz regulär aus, muss man sich halt neu orientieren!“ Zur Wahrheit gehört wohl auch, dass eine Veränderung neben vielen Risiken auch Chancen birgt. Ob sich die Filmnächte woanders in der Stadt neu erfinden können? Die Köpfe zusammenstecken mit den anderen Indoor- und Outdoor-Kinos, um gemeinschaftlich eine neue Ära des Chemnitzer Open-Air-Kinos zu beginnen? Die Story klingt filmreif, aber auch zu schön, um wahr zu sein.
Im Fotoalbum blättern…
Auch ganz persönlich verbinde ich mit den Filmnächten auf dem Theaterplatz unzählige Erinnerungen, die weit über zusammengeknüllte Kinoticket-Souvenirs hinausgehen… Sicher habt ihr auch das ein oder andere unvergessliche Filmnächte-Erlebnis zu erzählen?
- zum Filmnächte-Startschuss 2011: als sich Studenten in der Unibibliothek für kostenlosen Eintritt in eine Liste eintragen konnten, als wäre es die Anwesenheitsliste im Seminar.
- 2013 und 2014:
- als ich Teil des Einlassteams wurde und das Bierzapfen für Sportfreunde Stiller und Helge Schneider lernte (mehr oder weniger erfolgreich).
- Wie ich das geheime „Theaterplatz-Büro“ und auch Michael Claus als herzlichen Festivalleiter kennenlernte.
- Zum nächtlichen Team-Abschlussfest Nintendo Wii auf der gigantischen Leinwand zocken.
- Ein Wahnsinns-WM-Finale mit Happy End für Deutschland auf einem ausflippenden Theaterplatz erleben.
- 2017: als sich der Programmbeirat formte, ich dort ein Plätzchen abbekam und Fans kennenlernte, die noch viel häufiger als ich (damals ca. 60x jährlich) ins Kino tingeln.
- 2019: als ich bei der großen „Tatortreiniger“-Nacht Bjarne Mädel höchstpersönlich traf und ihn interviewen durfte (bodenständig, dieser Typ, ey!).
Die vielen unvergesslichen Filmabende bei Mondschein, Wind und Wetter:
- frisch verliebt den französischen Film „Liebe“ gucken, eingekuschelt in eine Decke, während das Gewitter an Lounge und Leinwand rüttelt.
- Bei der Biopic und „Psycho“ umfassenden Hitchcock-Nacht zittern (nicht nur wegen der Temperaturen!).
- Als Mitternacht der 12. Glockenschlag der Petri-Kirche fast mit der entsprechenden Szene in Disneys „Cinderella“ übereinstimmte.
- Als die vielen Chemnitzer Komparsen, die bei „Quellen des Lebens“ mitgespielt haben, sich für ein Comeback und Interview bei den Filmnächten getroffen haben.
- Wenn man als einzeln erschienener Gast plötzlich Teil einer großen Kino-Meute ist, die gemeinsam lacht, schluchzt und Filme abfeiert.
- …
Ihr merkt schon, ich könnte ewig so weiter plaudern. Aber irgendwann muss man zu einem Ende kommen… Tja, ein Ende? Hoffentlich aber nicht für die Filmnächte!
Fortsetzung folgt (?)
Wie schließt man nun so einen Text, in dem die stärksten Argumente irgendwo zwischen dem 2. und 11. Absatz geblieben sind? Auf jede Menge wasserdichte Argumente und wunderbare Kommentare von Unterstützern der Filmnächte kann ich glücklicherweise verweisen: direkt unter der Petition! Die gilt es unbedingt zu unterzeichnen, liebe Leser, liebe russische Bots und liebe Angestellte der Stadt. Übrigens: Nach dem Corona-Hangover der vergangenen Jahre bringen auch die Besucherzahlen 2022 ganz deutlich wieder zum Ausdruck: Das Chemnitzer Publikum schätzt und will die Filmnächte, als Teil der hiesigen Kulturlandschaft. Und zwar in dieser Kulisse.